R.I.P. Amanda Todd - nur nicht im World Wide Web
Die Schreckensnachricht von dem Selbstmord der fünfzehnjährigen Amanda Todd ging um die Welt - dank des World Wide Webs werden die trauernden Angehörigen wohl auch in Zukunft kaum Frieden finden. Denn nicht nur Amandas Video-Message auf der weltbekannten Plattform YouTube, in dem das Mobbing-Opfer ihren Selbstmord ankündigt, auch die zahllosen Online-Artikel internationaler Medien - in Deutschland seien neben dem umstrittenen Boulevard-Blatt BILD renommierte Blätter wie Süddeutsche Zeitung oder der Tagesspiegel zu nennen - kursieren munter im Netz und lassen den Fall der Kanadierin selbst auf der anderen Seite der Welt nicht Ruhen.
Video-Botschaft von Amanda Todd
Mittlerweile zählt ein Video 12.955.408 views
(dies ist nur eines von zahlreichen Versionen; Stand: 25.11.2012).
Und Kinder und Jugendliche haben 24/7 uneingeschränkten Zugriff.
Die Süddeutsche Zeitung rechtfertigt die Tatsache der Berichterstattung über den Selbstmord eines Teenagers damit, den Fokus auf ein hochbrisantes und in direktem Zusammenhang mit dem Suizid unter Jugendlichen stehenden Thema zu legen: "Mobbing im Internet". Am Ende ihres Artikels verweist die Redaktion schließlich auf Folgendes:
"Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung in diesem Fall gestalten wir deshalb bewusst zurückhaltend, wir verzichten weitgehend auf Details. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Selbsttötungen. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehen die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten" (3)
Süddeutsche Zeitung: Mobbing im Internet
Selbst ein Wikipedia-Eintrag wurde mit der nüchternen Überschrift "Suicide of Amanda Todd" u.a. auf englischer, französischer und spanischer Sprache angelegt.
Dabei ist der sogenannte "Werther-Effekt" ein bekanntes Risiko im Kontext der medialen Suizid-Berichterstattung. Benannt wurde dieser Effekt nach Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werther". Als dieser Roman Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, löste er angeblich eine schiere Selbstmord-Welle in ganz Europa aus. Quellenmäßig ist jedoch nur eine zweistellige Zahl an Suiziden, die in engem Zusammenhang mit der "Werther"-Publikation standen, belegt.
Damals noch als "Wertherfieber" bekannt, prägte der amerikanische Soziologe David Phillips 1974 schließlich den Begriff „Werther-Effekt“ als wissenschaftlichen Arbeitsbegriff zur Kennzeichnung von Nachahmungen medial vermittelter Suizide. Mithilfe einer quantitativen Studie belegte er statistisch, dass nach der medialen Berichterstattung über Suizide prominenter Persönlichkeiten, z.B. in Zeitungen, die Selbstmordraten in der Allgemeinbevölkerung tatsächlich anstiegen. Ein besonders erschreckendes Beispiel sei der Fall Marylin Monroe, über den besonders lange und intensiv berichtet wurde, gewesen.
In zahlreichen Studien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass gewisse Faktoren in Bezug auf die Nachahmerquote eine besonders gewichtige Rolle spielen:
Je länger und intensiver berichtet wird, desto höher sei auch die Suizidrate in der Folgezeit der Berichterstattung. Weiterhin sei die Prominenz des Mediums von Bedeutung und ob Selbstmorde zum Thema von Titelseiten avancieren. Auch die geografische Nähe zum Verbreitungsgebiet entsprechender Medien sei ausschlaggebend. Eine Heroisierung des/der Selbstmörders/-in habe zur Folge, dass die Tat als ruhmhaft erinnert und als akzeptabel bewertet werde (erlernter Suizid). Weitere einschlägige Merkmale: der Identifikationsgrad (Alter, Geschlecht, Rasse, Klasse etc.) mit dem Täter, der Tatort - bestimmte Orte sind v.a. durch die Medienberichterstattung als Suizid -Tatorte bekannt und infolgedessen vermehrt von Selbstmördern aufgesucht worden - der Bericht über spezifische Suizidmethoden bzw. Hilfsmittel - im Falle des Politikers Uwe Barschel wurde eine ganz neue Methodik populär: der schleichende Tod durch Ertrinken in der Badewanne unter Zuhilfenahme von Schlafmittel und Alkohol - sowie Charakter, Identität und Lebenssituation des Modells. Je beliebter und populärer der Selbstmörder, desto höher auch die Nachahmerquote:
"Die Schauspielerin [Marylin Monroe] wurde tendenziell in den Medien als zu sensibel, emotional und zu gut für die berechnende und raue Filmwelt Hollywoods dargestellt, als eine verträumte Künstlerin, die zum Opfer der Männer und der Filmindustrie wurde. Ihr Suizid durch Drogeneinnahme wurde stilisiert als verständlicher Ausweg, stiller Protest und endgültiger Rückzug der Künstlerin in ihre Traumwelt." (1)
Die Stilisierung und Glorifizierung durch die Medien wirken sich negativ auf die Zahl der Nachahmer aus. Sie entheben das Thema aus dem Kontext des Suizids als Tabu westlicher Gesellschaften und verkehren die Taten ins Gegenteil. Sie senken die Hemmschwelle des Selbstmörders, z.B. seine Angst vor Missachtung durch die Öffentlichkeit.
"Die in Aussicht gestellte posthume Anerkennung kann bei vulnerablen Gruppen zu einer Enthemmung und Enttabuisierung der suizidalen Tat führen." (1)
Ein Gegenbeispiel: Kurt Cobain
Eine Selbstmordwelle durch Nachahmung kann jedoch, wie das Beispiel Kurt Cobains zeigt, eingedämmt werden. Durch das Hinzuziehen von Psychiatern, die trauernden Fans Soforthilfe in Kliniken versprachen und auf die Existenz von Beratungs-Hotlines hinwiesen, konnte eine Tragödie wie im Falle Monroes verhindert werden. Die trauernde Witwe Cobains, Courtney Love, beweinte zwar öffentlich seine Tat, verurteilte ihn jedoch auch für seinen Lebensstil. Betont wurden Cobains gesundheitliche und private Problemen sowie sein Drogenexzess. Somit wurde eine Romantisierung seines Selbstmordes verhindert und die Schrecklichkeit seiner Tat hervorgehoben. Bilder seines entstellten Gesichts sowie eine differenziertere Medienberichterstattung, die Cobains Werk und private Probleme getrennt darstellten und auf Beratungs-Hotlines hinwiesen, taten ihr Übriges.
Nach Welz, Brosius und Goldney:
„Selbst Menschen, die zuvor nicht selbstmordgefährdet waren, würden sich nach unreflektierter Berichterstattungen ohne die Beachtung bestimmter Leitlinien gehäuft das Leben nehmen. Die Wahrscheinlichkeit, Nachahmungstäter zu mobilisieren, steigt durch die falsche mediale Berichterstattung von Suiziden tatsächlich erheblich. (1)
2002 erschien ein Artikel im Fachmagazin "Nervenarzt" zum Thema "Werther-Effekt" und seiner Bedeutung, seinen Mechanismen und Konsequenzen für die ethisch vertretbare journalistische Suizidberichterstattung. Als Begründung für die Wichtigkeit ihres Anliegens schreiben die Verfasser folgendes:
"Dies erscheint nötig, da es trotz vielfältiger und detaillierter Befunde zum Werther-Effekt in Deutschland bisher keine Versuche zu einer praktischen Umsetzung dieser Forschungsergebnisse in einem suizidpräventiven Programm gegeben hat. Während in anderen Ländern bereits erste Richtlinien für die journalistische Berichterstattung ausgearbeitet und zum Teil implementiert wurden, sind solche Bemühungen in Deutschland erst in ihren Anfängen." (1)
Nicht jeder Bericht muss also solch fatale Auswirkungen nach sich ziehen, wie einst Goethes "Werther". Folgende Leitlinien für die medienethisch vertretbare Suizidberichterstattung postulieren Hegler und Ziegler:
- Detaillierte Angaben über Alter, Geschlecht und Aussehen (Fotos, Bilder) sollten ebenso vermieden werden wie Angaben über soziale Beziehungen, emotionale Verfassung, Charakter und Leistungsfähigkeit
- Vor allem Informationen über die Suizidmethode müssen vermieden werden. Der Suizidort darf auf keinen Fall mystifiziert werden.
- Der Journalist sollte sich jeglicher Wertung des Suizids enthalten. Nach Suiziden tendieren Angehörige und Bekannte oft dazu den Verstorbenen zu überhöhen, was sich in einer entsprechenden Berichterstattung niederschlägt. Keine Heroisierung. Keine Simplifizierungen. Kein Ausdruck von Mitleid oder Unverständnis. Keine romantische Überhöhungen.
Amanda Todd: Heroisierung zum Mobbing-Opfer 2.0
"And too all the other lives that have been taken because of bullying, may you all rest in peace"
Dieser Spruch prangert an der offiziellen Amanda
Todd Gedenkseite auf Facebook und heroisiert Amanda zum Opfer, zum Märtyrer
einer Generation gemobbter und verzweifelter Jugendlicher, die nun zu Amanda aufsehen. Dies ist besonders dramatisch angesichts dessen, dass v.a. Suizide Prominenter den "Werther-Effekt" nach sich ziehen.
Mögen sich Printmedien wie die Süddeutsche Zeitung so gut wie möglich an einen Leitfaden für die mediale Berichterstattung über Suizid halten, Details zum Ort und der Methodik verschwiegen und auf eine Telefon-Seelsorge verwiesen haben ... sie haben Amanda für ewig mit einem desaströsen Phänomen des Web 2.0 verbunden - Cybermobbing - und damit ihren Teil zur Popularisierung und Glorifizierung Amandas auf der ganzen Welt beigetragen.
Das geografische Verbreitungsgebiet als räumliche Grenze der analogen Printmedien wurde durch die Globalisierung und Digitalisierung des Journalismus aufgehoben. Damit sind nicht nur regional und national, sondern weltweit verstärkt Nachahmungstaten v.a. unter (weiblichen) Jugendlichen zu befürchten, die ebenfalls Opfer von Mobbing- und Cybermobbing-Attacken werden oder es bereits sind. Denn ein Detail haben die Medien besonders ausgeleuchtet: Amandas Motiv für ihre Tat.
Berichten über Suizid? Das Paradoxon des Journalisten
„Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte!“ (1)
Dieser Imperativ für eine medienethisch vertretbare Art des Berichterstattens läuft jedoch den journalistischen Grundlagen (Hintergründe aufdecken, detailliert recherchieren etc..) komplett zuwider.
Wenn eine suizidpräventive Berichterstattung doch im krassen Gegensatz zu journalistischen Grundregeln steht, warum wird nicht komplett auf die Berichterstattung verzichtet?
- In Punkt 1 der Stellungnahme des Schweizer Presserates zur Suizidberichterstattung heißt es zu diesem Problem unmissverständlich: „Suizide und Suizidversuche sind eine soziale Realität. Sie können für die Massenmedien grundsätzlich kein Tabu sein“
- 1955 untersagt ein in Frankreich verabschiedetes Pressegesetz den französischen Medien jegliche Berichterstattung über den Suizid Minderjähriger.
"Die Journalisten befinden sich bei der Suizidberichterstattung im Spannungsfeld zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“." (1)
Neben dem gesinnungsethischen Ansatz und der Wahrheit als das höchste Gut des Journalisten, welche stets ans Licht kommen muss und deren Zweck alle Mittel heiligt, kann jedoch auch verantwortungsethisch argumentiert werden., indem man die Folgen der Berichterstattung abwägt und sich für diese verantwortlich fühlt.
Außerdem stellen Suizide einen lukrativen Verkaufsfaktor dar. Nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft und dem Nachfrage-Angebot-Modell wecken insbesondere Suizide von Prominenten das Interesse der Öffentlichkeit und so werden Selbstmorde wie der von Regisseur Tony Scott im Sommer 2012 von den Medien nach wie vor aufgegriffen. Der Wettbewerbsdruck lässt eine Verweigerungshaltung kaum zu.
Offizielle Richtlinien zur Berichterstattung über Selbsttötung des Deutschen Pressekodex:
„Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt“ (2)
Hier wird weniger auf den "Werther-Effekt", als auf den Schutz der Privatsphäre eingegangen. Außerdem bleiben die Richtlinien sehr vage formuliert und lassen sich einfach durch die Begründung des öffentlichen Interesses umgehen. Dies trifft bei jeder prominenten Person und jedem außergewöhnlichen Fall zu.
So wurde Amanda Todd schlichtweg zu einem Fall öffentlicher Besorgniserregung durch ihre Verbindung mit einem neuen Phänomen, dem es gilt, Einhalt zu gebieten und der es rechtfertigt, Amanda Todds Namen weltweit zu veröffentlichen, statt ihn zu schützen.
"Die Journalisten befinden sich bei der Suizidberichterstattung im Spannungsfeld zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“." (1)
Neben dem gesinnungsethischen Ansatz und der Wahrheit als das höchste Gut des Journalisten, welche stets ans Licht kommen muss und deren Zweck alle Mittel heiligt, kann jedoch auch verantwortungsethisch argumentiert werden., indem man die Folgen der Berichterstattung abwägt und sich für diese verantwortlich fühlt.
Außerdem stellen Suizide einen lukrativen Verkaufsfaktor dar. Nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft und dem Nachfrage-Angebot-Modell wecken insbesondere Suizide von Prominenten das Interesse der Öffentlichkeit und so werden Selbstmorde wie der von Regisseur Tony Scott im Sommer 2012 von den Medien nach wie vor aufgegriffen. Der Wettbewerbsdruck lässt eine Verweigerungshaltung kaum zu.
Offizielle Richtlinien zur Berichterstattung über Selbsttötung des Deutschen Pressekodex:
„Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt“ (2)Hier wird weniger auf den "Werther-Effekt", als auf den Schutz der Privatsphäre eingegangen. Außerdem bleiben die Richtlinien sehr vage formuliert und lassen sich einfach durch die Begründung des öffentlichen Interesses umgehen. Dies trifft bei jeder prominenten Person und jedem außergewöhnlichen Fall zu.
So wurde Amanda Todd schlichtweg zu einem Fall öffentlicher Besorgniserregung durch ihre Verbindung mit einem neuen Phänomen, dem es gilt, Einhalt zu gebieten und der es rechtfertigt, Amanda Todds Namen weltweit zu veröffentlichen, statt ihn zu schützen.
Ein kurzes Abschlussvideo ... Medien gehen über Leichen
Demnächst ...
Werther vs. Papageno Effekt
Pressefreiheit vs. Verbot von Suizidberichterstattung
Medienmonitor zu BILDs scheinheiliger Suizid-Politik
Die desaströse Medienberichterstattung über Robert Enkes Suizid
Literatur:
(1) Hegerl, U/ Ziegler, W: Der Werther-Effekt Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen In: Der Nervenarzt, 2002, Vol. 73(1), pp.41-49.
Online-Quellen
http:// www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html
(2) http://www.presserat.info/inhalt/der-pressekodex/pressekodex/richtlinien-zu-ziffer-8.html; Stand: 25.11.2012
Fokus Online: http://www.focus.de/digital/computer/nach-selbstmord-der-schuelerin-kanadierin-amanda-todd-wird-symbol-gegen-cybermobbing_aid_843177.html; Stand: 25.11.2012
Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Amanda_Todd; Stand: 25. 11.2012.
(3) Süddeutsche-Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/digital/mobbing-im-internet-der-angekuendigte-tod-der-amanda-todd-1.1502486 Stand: 25.11.2012.
Tagesspiegel: http://www.tagesspiegel.de/medien/digitale-welt/trauer-um-15-jaehrige-cybermobbing-trieb-amanda-todd-aus-vancouver-in-den-tod/7277052.html; Stand: 25.11.2012.
Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=ej7afkypUsc; Stand: 25.11.2012.