Das Ausmaß der nationalen Betroffenheit war enorm. An der Trauerfeier im Stadion von Hannover nahmen 40.000 Menschen teil. Millionen von Zuschauern verfolgten das Medienereignis live von Zuhause aus. Allein im TV standen ihnen dazu fünf Übertragungskanäle zur Verfügung (ARD, n-tv, DSF, NDR und N24). (Vgl. Steckert: 2012, S. 176) Diese gewaltige Resonanz sollte nicht die einzige beobachtete Medienwirkung bleiben.
Der "Enke-Effekt"- resümiert das SZMagazin im Februar 2010, 4 Monate nach dem Selbstmord des deutschen Spitzenfußballers Robert Enke, und beruft sich damit rhetorisch auf das dunkle Vermächtnis Goethes: "Die Leiden des jungen Werther". BildBlog-Herausgeber und ehemaliger FAZ-Redakteur Stefan Niggemeier schimpft am 16. November 2009 in seinem Blog mit erhobenem Zeigefinger, dass die Medien eine hohe Selbstmord-Quote geradezu provozieren. Robert Enkes tragischer Tod war wochenlang omnipräsent in der deutschen Medienlandschaft. Wieso die Aufregung über das enorme Interesse? Dürfen Fans nicht öffentlich und gemeinsam trauern? Besteht nicht eine ethische Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit?
"Der Enke-Effekt"
„Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl
der Selbsttötungen in Deutschland in die Höhe zu treiben.“ (Niggemeier: 2009)
Niggemeier beklagt, dass der Großteil der Medien
keinerlei Zurückhaltung zeige und jeder suizidpräventiven Empfehlung
zuwiderhandle. Bis ins kleinste Detail würde über Enkes Suizid berichtet. (Vgl. Niggemeier: 2009) Auch Blogger-Kollege Jens Berger klagt in seinem Blog „Der Spiegelfechter“ bereits am einen Tag nach Enkes Tod über den allseits ausgebrochenen deutschen Sensationsjournalismus.
Berger kann zahlreiche Zuwiderhandlungen gegen suizidpräventive Empfehlungen identifizieren,
beispielsweise dass der Großteil der Publikationsmedien Enkes Suizid bereits am
nächsten Tag als Titelgeschichte abdrucken ließen. (Vgl. Berger: 2009)
Das ethische Spannungsfeld des Journalisten
Journalisten befinden sich in einem „[…] Spannungsfeld zwischen Gesinnungs- und
Verantwortungsethik.“ (Pürer: 2003, S. 145) Wer verantwortungsethisch handeln will, hat stets
mögliche Folgen seines Tuns abzuwägen und dafür Verantwortung zu übernehmen,
vorausgesetzt, dass man diese Folgen beabsichtigter oder unbeabsichtigter Natur
abschätzen kann. Der Gesinnungsethiker fällt Entscheidungen, die auf Normen basieren,
und lehnt jegliche Verantwortung für die Folgen seines Handelns ab. Aus dieser
Sichtweise ist der Journalist nichts mehr verpflichtet als der Veröffentlichung
der Wahrheit, gleichgültig welche Konsequenzen sein Handeln nach sich zieht. (Vgl.
ebd., S. 144; vgl. auch Kepplinger: 2000, S. 11f.) Handelt der Journalist verantwortungsethisch und verschweigt
Ereignisse von öffentlichem Interesse bewusst, um etwaige Folgen zu vermeiden, verletzt
er automatisch seine gesinnungsethische Pflicht und fördert zudem eine Art
Gefälligkeitsjournalismus. Ein rein gesinnungsethisch geleiteter Journalismus
könnte jedoch katastrophale Folgen nach sich ziehen (vgl. Meier: 2011, S. 241).
Eine rein verantwortungsethische Position gegenüber der Suizidberichterstattung
würde bedeuten, alle journalistischen Grundregeln zu missachten. Soll die
Wahrscheinlichkeit eines Nachahmungseffekts gesenkt werden, dürften
Journalisten entweder nicht über den Suizid berichten oder sie müssten auf alle
relevanten Details verzichten.
„Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte!“(Ziegler: 2002, S. 46)
Niggemeier kritisiert, dass viele Journalisten ihre
gesinnungsethische über ihre verantwortungsethische Pflicht stellen und durch
diese Gewichtung eine besonders detaillierte Suizidberichterstattung über Prominente als legitim erachten. (Vgl. Niggemeier: 2009) Dies entspricht der Erkenntnis einer
Studie von Kepplinger und Knirsch, die besagt, dass Journalisten Verantwortung
für negative Folgen eher nicht übernehmen, sofern sie nach ihrer
Moralvorstellung also mit gutem Gewissen handeln. Berichterstattungen stets gesinnungsethisch
und wertrational also mithilfe der Berichterstattungsplicht und dem
öffentlichen Interesse zu legitimieren, kann jedoch ein Zeichen des Missbrauchs
dieser ethischen Position sein, wenn Folgen generell missachtet werden und dem
Handeln eigentlich eine zweckrationale Wirkungsabsicht zugrunde liegt. (Vgl.
Kepplinger: 2000, S. 38 und 41)
Ein Beispiel: So tritt die Hamburger Morgenpost ins Fettnäpfchen ...


Sensationsjournalismus und missglückte Werbeanzeige ... einfach fehl am Platz!
Nicht nur in den Printmedien, auch im TV findet nach Enkes Tod eine unreflektierte Berichterstattung statt:
RTL ... hauptsache aktuell ...
Der Deutsche Pressekodex
Da stellt sich die Frage, wieso eine solche Berichterstattungspraxis keine Konsequenzen nach sich zieht? Wenn die Massenmedien ihre Verantwortung vergessen und nur noch Quoten und Auflagezahlen etwas wert sind, wer übernimmt dann Verantwortung und reguliert diese Medien? 1956 wurde ursprünglich zur Vermeidung staatlicher Zensur der Deutsche Presserat gegründet. Er fungiert als Bewahrer der journalistischen
Berufsmoral und arbeitet als Selbstkontrollinstanz der deutschen Presse seit 1973 sogenannte Pressekodizes aus. (Vgl. Meier: 2011, S. 89 und 244f.) Pressekodizes „[…] sind freiwillige, auf internationaler oder
nationaler Ebene festgehaltene Übereinkünfte von Journalisten- und
Verlegerverbänden, Presse- und Medienräten.“ (Pürer: 2003, S. 144)
Unter Ziffer
8.7 steht aktuell bezüglich der Suizidberichterstattung Folgendes:
„Die
Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere
für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ (Ziffer 8 – Schutz der Persönlichkeit)
Im Vergleich zum österreichischen "Ehrenkodex" ist diese Richtlinie insbesondere hinsichtlich der Wahrnehmung des Werther-Effekts äußerst unzureichend formuliert
„Berichterstattung
über Suizide und Selbstverstümmelung sowie Suizidversuche und
Selbstverstümmelungsversuche gebietet im Allgemeinen große Zurückhaltung. Verantwortungsvoller
Journalismus wägt – auch wegen der Gefahr der Nachahmung – ab, ob ein
überwiegendes öffentliches Interesse besteht und verzichtet auf überschießende
Berichterstattung.“ (Punkt 11 des österreichischen Ehrenkodex)
Insofern ein Medium gegen derartige Ziffern verstößt und Beschwerde eingelegt wird, wird der Deutsche Presserat aktiv und spricht im härtesten Fall eine öffentliche Rüge gegen das betroffene Medium aus. Diese Sanktionen haben jedoch keinerlei rechtliche
Konsequenzen. Es besteht lediglich eine Abdruckpflicht.
„Es entspricht fairer
Berichterstattung, vom Deutschen Presserat öffentlich ausgesprochene Rügen zu
veröffentlichen, insbesondere in den betroffenen Publikationsorganen bzw.
Telemedien.“ (Ziffer 16 des Deutschen Pressekodex)
Veröffentlichungen
der Vorwürfe im betroffenen Medium sind dennoch nicht gesetzlich verpflichtend. (Vgl. Pürer: 2003, S. 144f.) Die Wirksamkeit diese Medienregulierung hängt ergo von der Einsicht des Täters ab - also keine allzu vielversprechende Wirkungsweise hinsichtlich der Kommerzialisierung und des starken Wettbewerbsdrucks. Denn insbesondere Suizide Prominenter stellen einen wichtigen Verkaufsfaktor für die
marktorientierte Medienlandschaft dar (vgl. Ziegler: 2002, S. 47).
Bei der Durchsicht der Chroniken der
Rügen auf der Homepage des Presserats wird schnell deutlich, dass es tatsächlich immer wieder zu Wiederholungstätern kommt, die sich von den Sanktionen des Presserats nur wenig beeindrucken lassen. Die
Boulevardzeitung „Bild“ wird überdurchschnittlich häufig gerügt. (Vgl.
Chroniken der Rügen) Eine Besserung scheint jedoch nicht eingetreten zu sein.
Allein 2012 wurde die auflagenstärkste und meistgelesene überregionale
Tageszeitung Deutschlands fünfmal wegen Verletzung von Ziffer 8 des Deutschen
Pressekodex gerügt. (Vgl. ebd.). Insbesondere Berichte über Suizide nahmen
erschreckende Ausmaße an. 2003 wurden alle „Bild“-Redaktion darauf hingewiesen,
dass die Publikation eines Suizids erst nach ausdrücklicher Genehmigung durch
die Hamburger Chefredaktion und nach Vorlage bei Chefredakteur Kai Diekman
gestattet ist. (Vgl. Gebauer: 2003) Nach Ansicht von „Bild“-Redakteur Nicolaus Fest
habe es keinen Kurswechsel in der Suizidpolitik, sondern eine organisatorische
Umstrukturierung gegeben. Frühere Verfehlungen seien sicher nicht der Grund
dafür gewesen. (Vgl. Fest in Jochheim: 2008)
„Dass Bild trotzdem regelmäßig für ihre Suizidberichterstattung gerügt wird, erklärt sich […] damit, dass die Bild-Redakteure ‚mitunter das Berichterstattungsinteresse deutlich höher einschätzen als der Presserat.‘ Da ist es, das Dilemma. […] ‚Das wird in Grenzfällen immer so sein.‘“ (Ebd.)
Neben zahlreichen Sanktionen gegen die Suizidpolitik der BILD ziehen aber auch andere Medien immer wieder die Aufmerksamkeit des Presserats auf sich. So holte sich die Regionalzeitung Leipziger Volkszeitung im Januar 2013 für die detailgetreue Berichterstattung eines Suizids eines Leipziger Bürgers im September 2012 eine nicht-öffentliche Missbilligung ein, wie der Radiosender Mephisto berichtete.
Podcast Mephisto zur Rüge der LVZ
Das Spiel mit der Menschenwürde ...
Im Fall Enke schreitet der Presserat ein einziges Mal im März 2010 ein. In der Online-Ausgabe des Satiremagazins „Titanic“erschienen
Cartoons, die auf
den Suizid des Torwarts anspielten. Für den Presserat stand fest: „Satire darf
nicht alles“ (Satire darf nicht alles: 2010). Durch die umstrittenen Cartoons sah
er die Menschenwürde (Ziffer 1 des Pressekodex) verletzt und sprach eine
öffentliche Rüge aus. (Vgl. ebd.) Dem hält das Frankfurter Satiremagazin jedoch
entgegen, dass die Cartoons durchaus einen sachlichen Kritikpunkt an dem
Leistungsdruck der Deutschen Bahn besäßen und nicht gegen Enke, sondern
allgemein gegen alle Fußballer, Bahnangestellte sowie Fans gerichtet sei. Stattdessen
rügt „Titanic“ den Presserat dafür, die Würde des Magazins verletzt und sich
auf Kosten von Robert Enke profiliert zu haben. (Vgl. Titanic rügt den
Presserat: 2010)
Quellen
http://www.focus.de/kultur/medien/robert-enke-der-tod-der-muell-und-die-quote_aid_453394.html
http://www.spiegelfechter.com/wordpress/1147/der-freitod-eines-torwarts-und-die-ethik
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/ueber-enke-und-werther/
http://himh.clients.squiz.net/mindframe/for-media/reporting-suicide/evidence-and-research/evidence-about-suicide-in-the-media
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/32718
http://www.readers-edition.de/2009/11/16/zum-tod-von-robert-enke-wie-weit-duerfen-medien-gehen/
http://www.morgenpost.de/sport/article110890553/Teresa-Enke-und-ihr-Kampf-gegen-die-Depression.html
http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article112546245/Theaterstueck-ueber-toten-Torwart-Enke-Witwe-schaltet-Anwalt-ein.html
http://www.morgenpost.de/kultur/berlin-kultur/article112659581/Streit-zwischen-Enke-und-Theater-kommt-wohl-vor-Gericht.html
http://www.bildblog.de/13741/teresa-enkes-trauer-verraten-und-verkauft/


