Montag, 15. April 2013

Der Papageno-Effekt und die Suizidprävention

Bye bye Werther! Hello Papageno?!



2010 konnte das Forscherteam der „Wiener Werkstätte für Suizidforschung“ von der Universität Wien den Beweis für die Existenz des sogenannten „Papageno-Effekts“ erbringen. Dieser Effekt wurde nach dem Vogelfänger Papageno aus Mozarts „Zauberflöte“ benannt. Nach dem Verlust seiner Geliebten Papagena wurde Papageno vor der Selbsttötung bewahrt, indem ihm drei Jungen alternative Bewältigungsstrategien aufzeigten. Demzufolge können Berichterstattungen über Suizide nicht nur negative, sondern unter bestimmten Umständen auch suizidprotektive Effekte besitzen. Besonders auf die Inhalte komme es bei der breiten Wirkung von Suizidberichten an. Reportagen, die zeigen, wie Betroffene Krisensituationen ohne suizidales Verhalten konstruktiv lösen, können im Verbreitungsraum des Mediums zu einer sinkenden Suizidrate beitragen. (Vgl. Niederkrotenthaler: 2010, S. 234ff.)


Bereits 1974 prägte der amerikanische Soziologe David P. Phillips einen nicht nur in der heutigen Medienwirkungsforschung äußerst populären Begriff: der „Werther-Effekt“. (Vgl. Ziegler: 2002, S. 41). Diesem liegt eine Studie zugrunde, die bewies, „[…] dass die Selbsttötungsziffer nach der Veröffentlichung von Berichten über Selbsttötungen […] sowohl in den USA als auch in Großbritannien anstieg […]“ (Kunczik: 2006, S. 95). Die Rede ist genauer genommen von Selbsttötungen prominenter Persönlichkeiten, die via Zeitungsmedium verbreitet wurden.[1]
Die erste Beobachtung dieses berühmten Effekts lässt sich, wie der Name schon andeutet, 200 Jahre früher zu Lebzeiten Johann Wolfgang von Goethes datieren. Seit Erscheinen dessen Romans „Die Leiden des jungen Werther“ 1774, in welchem sich der Held durch einen Kopfschuss selbst tötet, verbreitete sich durch die Lektüre zunächst das sogenannte „Werther-Fieber“: Körperliche Symptome wurden nach zeitgenössischen literarischen Quellen als Kontrollverlust in Form von „[…] Tränen, Atemlosigkeit und Schwindel […]“ (Andree: 2006, S. 116), „[…] fiebrig glühenden Wangen, einem ohnmachtsartigen ‚Entfallen‘ des Buchs, Herzschmerz […]“ (ebd., S. 118), „[…]Verwirrung der ‚Phantasie‘[…]“ (ebd.) sowie Schlaflosigkeit beschrieben. Diese wurden durch die kognitive Wirkung und naive Rezeptionsweise des Textes, der seine eigene Medialität überschreitet, zum Mitempfinden anregt und wie eine wahre Geschichte wirkt, sowie durch das Sympathisieren mit dem Autor ausgelöst. Schon durch die Übertragung von Romanelementen in die eigene Lebenswelt, vor allem aber durch die Aneignung des Textes, den es folglich gilt, nachzuahmen, sowie durch eine radikale Identifizierung mit Goethes Romanfigur beispielweise durch biografische Ähnlichkeiten sollen die emphatische Wirkung überschritten und dutzende „imitatio-Handlungen“ [2] (ebd., S. 172), Selbsttötungen nach Werthers Vorbild, ausgelöst worden sein.[3] Goethe selbst unternahm 1775 in der zweiten Auflage seines Romans einen suizidpräventiven Versuch, indem er Werther folgende Worte in den Mund legte: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“ (Goethe zitiert nach ebd., S. 191) Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Werther-Selbsttötungen als zentraler Bestandteil des „Werther-Mythos“ (ebd., S. 9) zur „literarischen Legende“ (ebd., S. 182) und zählen zu den „spektakulärsten Nachahmungshandlungen der Mediengeschichte“ (ebd., S. 175). (Vgl. ebd. S. 137 und 172ff.)
Heute spricht die Wissenschaft nicht von einer Legende, sondern von einem legendären Effekt, der nicht nur die Nachahmung fiktionaler, sondern auch realer Selbsttötungen der zum Untersuchungsgegenstand zahlreicher Studien wurde.[4] Je nach Perspektive wird er „als Wirkzusammenhang zwischen Modell-Suizid und Nachahmungstat […] als Imitationshypothese […], Suggestionstheorie […], Enthemmungseffekt […] oder Ansteckungshypothese […] bezeichnet.“ (Ziegler: 2002, S. 43) Nach der klassischen Theorie des Modelllernens von Bandura eignet sich der Mensch unabhängig vom Alter Verhaltensweisen, die er bei anderen Menschen beobachtet, an. Dabei werden nicht nur neue Verhaltensweise erlernt, sondern vorhandene Verhaltensmuster gehemmt bzw. enthemmt. Positive und negative Konsequenzen des beobachteten Verhaltens beeinflussen die Häufigkeit, mit der dieses Verhalten vom Imitator gezeigt wird. Der „Werther-Effekt“ ist folglich eine potenzielle Auswirkung eines Modelllernvorgangs. In weiteren Studien wurden verschiedene Faktoren identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß des Nachahmungseffekts erhöhen: Die Beliebtheit und Popularität des Opfers, die Zahl der Identifikationsfaktoren mit dem Täter – Alter, Geschlecht, Rasse, Klasse, Lebenssituation, Charakter – die Länge und Intensität der Berichterstattung – je länger und intensiver berichtet wird, desto höher ist auch die Suizidrate in der Folgezeit der Berichterstattung – die Prominenz des Mediums, das Erscheinen der Selbsttötung auf den Titelseiten, die geografische Nähe zum medialen Verbreitungsgebiet, der Tatort - bestimmte Orte sind v.a. durch die Medienberichterstattung als Suizid-Tatorte bekannt und werden infolgedessen vermehrt von Selbstmördern aufgesucht – sowie spezifische Suizidmethoden bzw. suizidale Hilfsmittel. (Vgl. ebd. S. 43 ff.)
„Die Schauspielerin [Marylin Monroe] wurde tendenziell in den Medien als zu sensibel, emotional und zu gut für die berechnende und raue Filmwelt Hollywoods dargestellt, als eine verträumte Künstlerin, die zum Opfer der Männer und der Filmindustrie wurde. Ihr Suizid durch Drogeneinnahme wurde stilisiert als verständlicher Ausweg, stiller Protest und endgültiger Rückzug der Künstlerin in ihre Traumwelt.“ (Ebd., S. 45)
Eine Stilisierung, Glorifizierung, Heroisierung oder jegliche andere Art Bewertung durch die Medien wirkt sich ebenso negativ auf die Zahl der Nachahmer aus. Die Tat wird infolge als ruhmhaft erinnert und als akzeptabel bewertet. 
„Die in Aussicht gestellte posthume Anerkennung kann bei vulnerablen Gruppen zu einer Enthemmung und Enttabuisierung der suizidalen Tat führen.“ (Ebd.) 
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) verweist in einer Empfehlung für die mediale Berichterstattung über Selbsttötungen darauf, dass während eines Interviews mit Angehörigen beachtet werden sollte, dass diese noch unter Shock stehen könnten und getroffene Aussagen daher nicht als Erklärungen für den Suizid verwendet werden dürfen. Auch sollte nicht von einer ausweglosen Situation, die den Suizid rechtfertigen, oder von Einflüssen, die das Opfer in den Suizid getrieben haben, gesprochen werden. Von romantisierenden oder idealisierenden Darstellungen sowie von der Veröffentlichung eines Abschiedsbriefes und Fotos wird ebenfalls abgeraten. Berichte „über Hintergründe der Suizidgefährdung und Möglichkeiten der Hilfe […] über Warnsignale und Risikofaktoren und über konkrete überregionale und regionale Hilfsangebote[…]“ sowie „[e]in einfühlsames Eingehen auf die Angehörigen und Ihre [sic!] Trauer […]“(Empfehlungen für die Berichterstattung in den Medien) haben dagegen sogar eine suizidpräventive Wirkung. (Vgl. ebd.)
Dass bestimmte Reportagen über Suizide also auch eine präventive Wirkung auf gefährdete Rezipientengruppen haben können, sollte nicht nur in der Empirie und Theorie von Bedeutung sein. Auch praktisch muss der Nachweis des Papageno-Effekts wegweisend für zukünftige journalistische Berichterstattungsstrategien über Selbsttötungen sein. Bekannte deutsche Printmedien wie dieZeit“ haben über die gegensätzlichen Effekt bereits resümiert und sie damit  in den öffentlichen und medialen Fokus gerückt.
Da sich der suizidpräventive "Papageno-Effekt" jedoch lediglich nach  Reportagen einstellt, die nicht von geglückten Suiziden handeln, müssen weitere Maßnahmen darauf abzielen, den „Werther-Effekt“ durch sinnvolle Eingriffe in die praktische journalistische Arbeit zu reduzieren.
Auch Alice Ruddigkeit stellt in ihrer Studie „Der umgekehrte Werter-Effekt“ fest, dass die Wirkung von verschiedenen Typen von Berichten über Suizide differiert. Als Alternative zu einem „unattraktiven, uninvestigativen und uninformativen“ (Brosius und Ziegler zitiert nach Ruddigkeit: 2010, S. 257) Journalismus oder anstatt eines allgemeinen Verzichts auf Suizidberichte schlägt Ruddigkeit vor, bestehende Gruppen von Berichten über Suizide zu identifizieren, die hinsichtlich des „Werther-Effekts“ unbedenklich und dennoch journalistisch ansprechend sind. Kurze Berichte über anonyme Täter verursachen ihren Ergebnissen zufolge keine nennenswerten Nachahmungen, während bebilderte Berichte über relativ prominente Persönlichkeiten zu einem Anstieg der Suizidrate führen können. Den bisherigen Stand von Medienrichtlinien und Empfehlungen zur Suizidberichterstattung in Deutschland kritisiert sie als zu undifferenziert. (Vgl. ebd., S. 257f. und 271)
 



[1] Kritiker bemängelten, dass in dieser Studie nicht bewiesen werden konnte, „[…] dass die Selbstmörder zuvor die entsprechenden Medieninhalte rezipiert hatten.“ (Kunczik: 2006, S. 95)
[2] Ethymologisch kommt Imitatio von imitor, hängt zusammen mit aemulus (nacheifernd) und imago (Abbild). (Vgl. Andree: 2006, S. 174)
[3] Damals wie heute lassen sich die Nachahmungstaten nicht zweifelsfrei auf die Werther-Lektüre zurückführen. (Vgl. ebd., S. 187)
[4] Vgl. Kunczik: 2006, S. 94ff.





Quellen:

Niederkrotenthaler, Thomas [et al.] (2010): Role of media reports in completed and prevented suicide: Werther v. Papageno effects. In: The British Journal of Psychiatry. Vol. 197, S. 234-243.
Parvin Sadigh (22.11.2011): Der Werther-Effekt schadet, der Papageno-Effekt nützt. In Zeit Online. Online abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-11/suizid-medien [Stand: 06.04.2013].

Sonntag, 27. Januar 2013

Medien und Suizid in Deutschland: Robert Enke und eine desaströse Suizidberichterstattungs-Politik

    

Das Ausmaß der nationalen Betroffenheit war enorm. An der Trauerfeier im Stadion von Hannover nahmen 40.000 Menschen teil. Millionen von Zuschauern verfolgten das Medienereignis live von Zuhause aus. Allein im TV standen ihnen dazu fünf Übertragungskanäle zur Verfügung (ARD, n-tv, DSF, NDR und N24). (Vgl. Steckert: 2012, S. 176) Diese gewaltige Resonanz sollte nicht die einzige beobachtete Medienwirkung bleiben. 


"Der Enke-Effekt"


Der "Enke-Effekt"- resümiert das SZMagazin im Februar 2010, 4 Monate nach dem Selbstmord des deutschen Spitzenfußballers Robert Enke, und beruft sich damit rhetorisch auf das dunkle Vermächtnis Goethes:  "Die Leiden des jungen Werther". BildBlog-Herausgeber und ehemaliger FAZ-Redakteur Stefan Niggemeier schimpft am 16. November 2009 in seinem Blog mit erhobenem Zeigefinger, dass die Medien eine hohe Selbstmord-Quote geradezu  provozieren Robert Enkes tragischer Tod war wochenlang omnipräsent in der deutschen Medienlandschaft. Wieso die Aufregung über das enorme Interesse? Dürfen Fans nicht öffentlich und gemeinsam trauern? Besteht nicht eine ethische Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit? 


„Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland in die Höhe zu treiben.“ (Niggemeier: 2009) 


Niggemeier beklagt, dass der Großteil der Medien keinerlei Zurückhaltung zeige und jeder suizidpräventiven Empfehlung zuwiderhandle. Bis ins kleinste Detail würde über Enkes Suizid berichtet. (Vgl. Niggemeier: 2009) Auch Blogger-Kollege Jens Berger klagt in seinem Blog „Der Spiegelfechter“ bereits am einen Tag nach Enkes Tod über den allseits ausgebrochenen deutschen Sensationsjournalismus. Berger kann zahlreiche Zuwiderhandlungen gegen suizidpräventive Empfehlungen identifizieren, beispielsweise dass der Großteil der Publikationsmedien Enkes Suizid bereits am nächsten Tag als Titelgeschichte abdrucken ließen. (Vgl. Berger: 2009)

Das ethische Spannungsfeld des Journalisten

Journalisten befinden sich in einem „[…] Spannungsfeld zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik.“ (Pürer: 2003, S. 145) Wer verantwortungsethisch handeln will, hat stets mögliche Folgen seines Tuns abzuwägen und dafür Verantwortung zu übernehmen, vorausgesetzt, dass man diese Folgen beabsichtigter oder unbeabsichtigter Natur abschätzen kann. Der Gesinnungsethiker fällt Entscheidungen, die auf Normen basieren, und lehnt jegliche Verantwortung für die Folgen seines Handelns ab. Aus dieser Sichtweise ist der Journalist nichts mehr verpflichtet als der Veröffentlichung der Wahrheit, gleichgültig welche Konsequenzen sein Handeln nach sich zieht. (Vgl. ebd., S. 144; vgl. auch Kepplinger: 2000, S. 11f.) Handelt der Journalist verantwortungsethisch und verschweigt Ereignisse von öffentlichem Interesse bewusst, um etwaige Folgen zu vermeiden, verletzt er automatisch seine gesinnungsethische Pflicht und fördert zudem eine Art Gefälligkeitsjournalismus. Ein rein gesinnungsethisch geleiteter Journalismus könnte jedoch katastrophale Folgen nach sich ziehen (vgl. Meier: 2011, S. 241). Eine rein verantwortungsethische Position gegenüber der Suizidberichterstattung würde bedeuten, alle journalistischen Grundregeln zu missachten. Soll die Wahrscheinlichkeit eines Nachahmungseffekts gesenkt werden, dürften Journalisten entweder nicht über den Suizid berichten oder sie müssten auf alle relevanten Details verzichten.
„Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte!“(Ziegler: 2002, S. 46)
Niggemeier kritisiert, dass viele Journalisten ihre gesinnungsethische über ihre verantwortungsethische Pflicht stellen und durch diese Gewichtung eine besonders detaillierte Suizidberichterstattung über Prominente als legitim erachten. (Vgl. Niggemeier: 2009) Dies entspricht der Erkenntnis einer Studie von Kepplinger und Knirsch, die besagt, dass Journalisten Verantwortung für negative Folgen eher nicht übernehmen, sofern sie nach ihrer Moralvorstellung also mit gutem Gewissen handeln. Berichterstattungen stets gesinnungsethisch und wertrational also mithilfe der Berichterstattungsplicht und dem öffentlichen Interesse zu legitimieren, kann jedoch ein Zeichen des Missbrauchs dieser ethischen Position sein, wenn Folgen generell missachtet werden und dem Handeln eigentlich eine zweckrationale Wirkungsabsicht zugrunde liegt. (Vgl. Kepplinger: 2000, S. 38 und 41)

                 


Ein Beispiel: So tritt die Hamburger Morgenpost ins Fettnäpfchen ... 

Die tapfere Witwe von Robert Enke: Ihr Mut bewegt uns alle. "Wir dachten, mit Liebe schaffen wir das ...", Torwart entschuldigt sich im Abschiedsbrief, Bierhoff sagt Länderspiel unter Tränen abDie tapfere Witwe von Robert Enke: Ihr Mut bewegt uns alle. "Wir dachten, mit Liebe schaffen wir das ..." - "Tauschen geht wohl nicht mehr, oder?"


Sensationsjournalismus und missglückte Werbeanzeige ... einfach fehl am Platz!



Nicht nur in den Printmedien, auch im TV findet nach Enkes Tod eine unreflektierte Berichterstattung statt:


RTL ... hauptsache aktuell ...




Der Deutsche Pressekodex

Da stellt sich die Frage, wieso eine solche Berichterstattungspraxis keine Konsequenzen nach sich zieht? Wenn die Massenmedien ihre Verantwortung vergessen und nur noch Quoten und Auflagezahlen etwas wert sind, wer übernimmt dann Verantwortung und reguliert diese Medien? 1956 wurde ursprünglich zur Vermeidung staatlicher Zensur der Deutsche Presserat gegründet. Er fungiert als Bewahrer der journalistischen Berufsmoral und arbeitet als Selbstkontrollinstanz der deutschen Presse seit 1973 sogenannte Pressekodizes aus. (Vgl. Meier: 2011, S. 89 und 244f.) Pressekodizes „[…] sind freiwillige, auf internationaler oder nationaler Ebene festgehaltene Übereinkünfte von Journalisten- und Verlegerverbänden, Presse- und Medienräten.“ (Pürer: 2003, S. 144)
Unter Ziffer 8.7 steht aktuell bezüglich der Suizidberichterstattung Folgendes:
„Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ (Ziffer 8 – Schutz der Persönlichkeit)

Im Vergleich zum österreichischen "Ehrenkodex" ist diese Richtlinie insbesondere hinsichtlich der Wahrnehmung des Werther-Effekts äußerst unzureichend formuliert
„Berichterstattung über Suizide und Selbstverstümmelung sowie Suizidversuche und Selbstverstümmelungsversuche gebietet im Allgemeinen große Zurückhaltung. Verantwortungsvoller Journalismus wägt – auch wegen der Gefahr der Nachahmung – ab, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht und verzichtet auf überschießende Berichterstattung.“ (Punkt 11 des österreichischen Ehrenkodex)


Insofern ein Medium gegen derartige Ziffern verstößt und Beschwerde eingelegt wird, wird der Deutsche Presserat aktiv und spricht im härtesten Fall eine öffentliche Rüge gegen das betroffene Medium aus. Diese  Sanktionen haben jedoch keinerlei rechtliche Konsequenzen. Es besteht lediglich eine Abdruckpflicht.
„Es entspricht fairer Berichterstattung, vom Deutschen Presserat öffentlich ausgesprochene Rügen zu veröffentlichen, insbesondere in den betroffenen Publikationsorganen bzw. Telemedien.“ (Ziffer 16 des Deutschen Pressekodex)
Veröffentlichungen der Vorwürfe im betroffenen Medium sind dennoch nicht gesetzlich verpflichtend. (Vgl. Pürer: 2003, S. 144f.) Die Wirksamkeit diese Medienregulierung hängt ergo von der Einsicht des Täters ab - also keine allzu vielversprechende Wirkungsweise hinsichtlich der Kommerzialisierung und des starken Wettbewerbsdrucks. Denn insbesondere Suizide Prominenter stellen einen wichtigen Verkaufsfaktor für die marktorientierte Medienlandschaft dar (vgl. Ziegler: 2002, S. 47).
Bei der Durchsicht der Chroniken der Rügen auf der Homepage des Presserats wird schnell deutlich, dass es tatsächlich immer wieder zu Wiederholungstätern kommt, die sich von den Sanktionen des Presserats nur wenig beeindrucken lassen. Die Boulevardzeitung „Bild“ wird überdurchschnittlich häufig gerügt. (Vgl. Chroniken der Rügen) Eine Besserung scheint jedoch nicht eingetreten zu sein. Allein 2012 wurde die auflagenstärkste und meistgelesene überregionale Tageszeitung Deutschlands fünfmal wegen Verletzung von Ziffer 8 des Deutschen Pressekodex gerügt. (Vgl. ebd.). Insbesondere Berichte über Suizide nahmen erschreckende Ausmaße an. 2003 wurden alle „Bild“-Redaktion darauf hingewiesen, dass die Publikation eines Suizids erst nach ausdrücklicher Genehmigung durch die Hamburger Chefredaktion und nach Vorlage bei Chefredakteur Kai Diekman gestattet ist. (Vgl. Gebauer: 2003) Nach Ansicht von „Bild“-Redakteur Nicolaus Fest habe es keinen Kurswechsel in der Suizidpolitik, sondern eine organisatorische Umstrukturierung gegeben. Frühere Verfehlungen seien sicher nicht der Grund dafür gewesen. (Vgl. Fest in Jochheim: 2008)
„Dass Bild trotzdem regelmäßig für ihre Suizidberichterstattung gerügt wird, erklärt sich […] damit, dass die Bild-Redakteure ‚mitunter das Berichterstattungsinteresse deutlich höher einschätzen als der Presserat.‘ Da ist es, das Dilemma. […] ‚Das wird in Grenzfällen immer so sein.‘“ (Ebd.)

Neben zahlreichen Sanktionen gegen die Suizidpolitik der BILD ziehen aber auch andere Medien immer wieder die Aufmerksamkeit des Presserats auf sich. So holte sich die Regionalzeitung Leipziger Volkszeitung im Januar 2013 für die detailgetreue Berichterstattung eines Suizids eines Leipziger Bürgers im September 2012 eine nicht-öffentliche Missbilligung ein, wie der Radiosender Mephisto berichtete. 

Podcast Mephisto zur Rüge der LVZ


 Das Spiel mit der Menschenwürde ...

Im Fall Enke schreitet der Presserat ein einziges Mal im März 2010 ein. In der Online-Ausgabe des Satiremagazins „Titanic“erschienen Cartoons, die auf den Suizid des Torwarts anspielten. Für den Presserat stand fest: „Satire darf nicht alles“ (Satire darf nicht alles: 2010). Durch die umstrittenen Cartoons sah er die Menschenwürde (Ziffer 1 des Pressekodex) verletzt und sprach eine öffentliche Rüge aus. (Vgl. ebd.) Dem hält das Frankfurter Satiremagazin jedoch entgegen, dass die Cartoons durchaus einen sachlichen Kritikpunkt an dem Leistungsdruck der Deutschen Bahn besäßen und nicht gegen Enke, sondern allgemein gegen alle Fußballer, Bahnangestellte sowie Fans gerichtet sei. Stattdessen rügt „Titanic“ den Presserat dafür, die Würde des Magazins verletzt und sich auf Kosten von Robert Enke profiliert zu haben. (Vgl. Titanic rügt den Presserat: 2010)


Fieses Foul


Trendsport Suizid


Sofortmaßnahme gegen Depressionen

Drei Jahre danach hat Teresa Enke noch immer mit dem Interesse der Öffentlichkeit und der hohen Aufmerksamkeit der Medien zu kämpfen. Im Januar 2013 feiert das Theaterstück „Demenz Depression und Revolution“ des Maxim Gorki Theaters in Berlin Premiere. Das Werk aus der Feder von Intendant Fritz Kater alias Armin Petras thematisiert u.a. die psychische Erkrankung eines Leistungssportlers. Wie die „Berliner Morgenpost“ am 10. Januar 2013 berichtet, sieht Teresa Enke ihre Persönlichkeitsrechte durch das Stück verletzt. Auch ohne Namensnennung sei die Vermarktung des Schicksals ihrer Familie nach der Erstaufführung nicht von der Hand zu weisen – die Witwe hatte das Bühnenstück zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht gesehen. Als Reaktion auf Teresa Enkes Drohung, mit gerichtlichen Schritten gegen das Theater vorzugehen, strich dieses vorerst den umstrittenen Teil der Vorführung über die Depressionserkrankung aus dem Programm. Journalist Stefan Kirschner sieht in der Inszenierung keine kommerzielle Vermarktung der Enke-Familie. Erst die zunehmende Berichterstattung über den drohenden Rechtsstreit bündle die öffentliche Aufmerksamkeit und verweise auf Teresa Enkes Verbindung zu dem Stück. (Vgl. Kirschner: 2013)

„Ob normale Theatergänger beim Besuch dieses Stücks über einen depressiven Leistungssportler sofort an Teresa Enke gedacht haben? Jetzt, nachdem das Ganze medial Wellen schlägt, dürfte kaum einer nicht daran denken.“ (Ebd.)




Quellen

http://www.focus.de/kultur/medien/robert-enke-der-tod-der-muell-und-die-quote_aid_453394.html
http://www.spiegelfechter.com/wordpress/1147/der-freitod-eines-torwarts-und-die-ethik
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/ueber-enke-und-werther/
http://himh.clients.squiz.net/mindframe/for-media/reporting-suicide/evidence-and-research/evidence-about-suicide-in-the-media
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/32718
http://www.readers-edition.de/2009/11/16/zum-tod-von-robert-enke-wie-weit-duerfen-medien-gehen/
http://www.morgenpost.de/sport/article110890553/Teresa-Enke-und-ihr-Kampf-gegen-die-Depression.html
http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article112546245/Theaterstueck-ueber-toten-Torwart-Enke-Witwe-schaltet-Anwalt-ein.html
http://www.morgenpost.de/kultur/berlin-kultur/article112659581/Streit-zwischen-Enke-und-Theater-kommt-wohl-vor-Gericht.html
http://www.bildblog.de/13741/teresa-enkes-trauer-verraten-und-verkauft/


Bildquellen

http://www.titanic-magazin.de/postkarten.html?&card=8866&cHash=6b98b59d6291a685556bf954bc908bad[Stand: 06.04.2013].
http://www.titanic-magazin.de/postkarten.html?&card=8869&cHash=f83aa78f9bba9a4c377c8e0ddf1350a9[Stand: 06.04.2013]. http://www.titanic-magazin.de/postkarten.html?&card=8872&cHash=610ad2acaab090c6a6e785f961e57d89 [Stand: 06.04.2013].

Audio

http://www.podcast.de/episode/1391466/D%3A+Das+Spiel+um+die+Menschenw%C3%BCrde.+Trauerfeier+f%C3%BCr+Enke/

http://mephisto976.uni-leipzig.de/nachrichten/anzeigen/deutscher-presserat-missbilligt-lvz.html

Sonntag, 25. November 2012

Suizid im Netz der Medien


R.I.P. Amanda Todd - nur nicht im World Wide Web

Die Schreckensnachricht von dem Selbstmord der fünfzehnjährigen Amanda Todd ging um die Welt - dank des World Wide Webs werden die trauernden Angehörigen wohl auch in Zukunft kaum Frieden finden. Denn nicht nur Amandas Video-Message auf der weltbekannten Plattform YouTube, in dem das Mobbing-Opfer ihren Selbstmord ankündigt, auch die zahllosen Online-Artikel internationaler Medien - in Deutschland seien neben dem umstrittenen Boulevard-Blatt BILD renommierte Blätter wie Süddeutsche Zeitung oder der Tagesspiegel zu nennen - kursieren munter im Netz und lassen den Fall  der Kanadierin selbst auf der anderen Seite der Welt nicht Ruhen




Video-Botschaft von Amanda Todd





Dabei stellt sich die Frage, warum  dieses Video nicht schon längst von der sozialen Plattform verbannt wurde? Warum verweisen seriöse Medien auf die Existenz eines solchen Videos?  
Mittlerweile zählt ein Video  12.955.408  views (dies ist nur eines von zahlreichen Versionen; Stand: 25.11.2012). Und Kinder und Jugendliche haben 24/7 uneingeschränkten Zugriff.

Die Süddeutsche Zeitung rechtfertigt die Tatsache der Berichterstattung über den Selbstmord eines Teenagers damit, den Fokus auf ein hochbrisantes und in direktem Zusammenhang mit dem Suizid unter Jugendlichen stehenden Thema zu legen:  "Mobbing im Internet". Am Ende ihres Artikels verweist die Redaktion schließlich auf Folgendes: 

"Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung in diesem Fall gestalten wir deshalb bewusst zurückhaltend, wir verzichten weitgehend auf Details. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Selbsttötungen. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehen die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten" (3)

Süddeutsche Zeitung: Mobbing im Internet

Selbst ein Wikipedia-Eintrag wurde mit der nüchternen Überschrift "Suicide of Amanda Todd" u.a. auf englischer, französischer und spanischer Sprache angelegt. 



Reflexion des Werther-Effekts in der Wissenschaft



Dabei ist der sogenannte "Werther-Effekt" ein bekanntes Risiko im Kontext der medialen Suizid-Berichterstattung. Benannt wurde dieser Effekt nach Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werther". Als dieser Roman Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, löste er angeblich eine schiere Selbstmord-Welle in ganz Europa aus. Quellenmäßig ist jedoch nur eine zweistellige Zahl an Suiziden, die in engem Zusammenhang mit der "Werther"-Publikation standen, belegt.  

Damals noch als "Wertherfieber" bekannt, prägte der amerikanische Soziologe David Phillips 1974 schließlich den Begriff „Werther-Effekt“ als wissenschaftlichen Arbeitsbegriff zur Kennzeichnung von Nachahmungen medial vermittelter Suizide. Mithilfe einer quantitativen Studie belegte er statistisch, dass nach der medialen Berichterstattung über Suizide prominenter Persönlichkeiten, z.B. in Zeitungen, die Selbstmordraten in der Allgemeinbevölkerung tatsächlich anstiegen. Ein besonders erschreckendes Beispiel sei der Fall Marylin Monroe, über den besonders lange und intensiv berichtet wurde, gewesen. 

In zahlreichen Studien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass gewisse Faktoren in Bezug auf die Nachahmerquote eine besonders gewichtige Rolle spielen:

Je länger und intensiver berichtet wird, desto höher sei auch die Suizidrate in der Folgezeit der Berichterstattung. Weiterhin sei die Prominenz des Mediums von Bedeutung und ob  Selbstmorde zum Thema von Titelseiten avancieren. Auch die geografische Nähe zum Verbreitungsgebiet entsprechender Medien  sei ausschlaggebend. Eine Heroisierung  des/der Selbstmörders/-in habe zur Folge, dass die Tat als ruhmhaft erinnert und als akzeptabel bewertet werde (erlernter Suizid). Weitere einschlägige Merkmale: der Identifikationsgrad (Alter, Geschlecht, Rasse, Klasse etc.) mit dem Täter,  der Tatort - bestimmte Orte sind v.a. durch die Medienberichterstattung als Suizid -Tatorte bekannt und infolgedessen vermehrt von Selbstmördern aufgesucht worden -  der Bericht über spezifische Suizidmethoden bzw. Hilfsmittel - im Falle des Politikers Uwe Barschel  wurde  eine ganz neue Methodik populär: der schleichende Tod durch Ertrinken  in der Badewanne unter Zuhilfenahme von Schlafmittel und Alkohol - sowie Charakter, Identität und Lebenssituation des Modells. Je beliebter und populärer der Selbstmörder, desto höher auch die Nachahmerquote: 

"Die Schauspielerin [Marylin Monroe] wurde tendenziell in den Medien als zu sensibel, emotional und zu gut für die berechnende und raue Filmwelt Hollywoods dargestellt, als eine verträumte Künstlerin, die zum Opfer der Männer und der Filmindustrie wurde. Ihr Suizid durch Drogeneinnahme wurde stilisiert als verständlicher Ausweg, stiller Protest und endgültiger Rückzug der Künstlerin in ihre Traumwelt." (1)

Die Stilisierung und Glorifizierung durch die Medien wirken sich negativ auf die Zahl der Nachahmer aus.  Sie entheben das Thema aus dem Kontext des Suizids als Tabu westlicher Gesellschaften und verkehren die Taten ins Gegenteil. Sie senken die Hemmschwelle des Selbstmörders, z.B. seine Angst vor Missachtung durch die Öffentlichkeit. 

"Die in Aussicht gestellte posthume Anerkennung kann bei vulnerablen Gruppen zu einer Enthemmung und Enttabuisierung der suizidalen Tat führen." (1)

Ein Gegenbeispiel: Kurt Cobain 
Eine Selbstmordwelle durch Nachahmung  kann jedoch, wie das Beispiel Kurt Cobains zeigt, eingedämmt werden. Durch das Hinzuziehen von Psychiatern, die trauernden Fans Soforthilfe in Kliniken versprachen und auf die Existenz von Beratungs-Hotlines hinwiesen, konnte eine Tragödie wie im Falle Monroes verhindert werden. Die trauernde Witwe Cobains, Courtney Love, beweinte zwar öffentlich seine Tat, verurteilte ihn jedoch auch für seinen Lebensstil. Betont wurden Cobains gesundheitliche und private Problemen sowie sein Drogenexzess. Somit wurde eine Romantisierung seines Selbstmordes verhindert und die Schrecklichkeit seiner Tat hervorgehoben. Bilder seines entstellten Gesichts sowie eine differenziertere Medienberichterstattung, die Cobains Werk und private Probleme getrennt darstellten und auf Beratungs-Hotlines hinwiesen, taten ihr Übriges.  


Nach Welz, Brosius und Goldney:
Selbst Menschen, die zuvor nicht selbstmordgefährdet waren, würden sich nach unreflektierter Berichterstattungen ohne die Beachtung bestimmter Leitlinien gehäuft das Leben nehmen. Die Wahrscheinlichkeit,  Nachahmungstäter zu mobilisieren, steigt durch die falsche mediale Berichterstattung von Suiziden tatsächlich erheblich. (1) 

2002 erschien ein Artikel im Fachmagazin "Nervenarzt" zum Thema "Werther-Effekt" und seiner Bedeutung, seinen Mechanismen und Konsequenzen für die ethisch vertretbare journalistische Suizidberichterstattung. Als Begründung für die Wichtigkeit ihres Anliegens schreiben die Verfasser folgendes:

"Dies erscheint nötig, da es trotz vielfältiger und detaillierter Befunde zum Werther-Effekt in Deutschland bisher keine Versuche zu einer praktischen Umsetzung dieser Forschungsergebnisse in einem suizidpräventiven Programm gegeben hat. Während in anderen Ländern bereits erste Richtlinien für die journalistische Berichterstattung ausgearbeitet und zum Teil implementiert wurden, sind solche Bemühungen in Deutschland erst in ihren Anfängen." (1)

Nicht jeder Bericht muss also solch fatale Auswirkungen nach sich ziehen, wie einst Goethes "Werther". Folgende Leitlinien für die medienethisch vertretbare Suizidberichterstattung postulieren Hegler und Ziegler:

  • Detaillierte Angaben über Alter, Geschlecht und Aussehen (Fotos, Bilder) sollten ebenso vermieden werden wie Angaben über soziale Beziehungen, emotionale Verfassung, Charakter und Leistungsfähigkeit
  • Vor allem Informationen über die Suizidmethode müssen vermieden werden. Der Suizidort darf auf keinen Fall mystifiziert werden. 
  • Der Journalist sollte sich jeglicher Wertung des Suizids enthalten. Nach Suiziden tendieren Angehörige und Bekannte oft dazu den Verstorbenen zu überhöhen, was sich in einer entsprechenden Berichterstattung niederschlägt. Keine Heroisierung. Keine Simplifizierungen. Kein Ausdruck von Mitleid oder Unverständnis. Keine romantische Überhöhungen. 


Amanda Todd: Heroisierung zum Mobbing-Opfer 2.0


Die Nachricht von Amanda Todds Suizid hat weltweit für blankes Entsetzen gesorgt. Die Reaktionen und Konsequenzen sind von enormem Ausmaß. Über Nacht wurde aus der unbekannten fünfzehnjährigen Amerikanerin nicht nur ein "Star" auf YouTube, sondern eine prominente Persönlichkeit auf der ganzen Welt. Davon zeugen die Fülle an internationalen Medien, die über den Fall "Todd" berichten, davon zeugt ein ihr eigens gewidmeter Wikipedia-Artikel auf mehreren Sprachen, davon zeugt die Gedenkseite auf Facebook mit über 1 Millionen "Gefällt mir"-Angaben. Doch  damit einher geht auch ihre Glorifizierung zum ultimativen Opfer der Generation 2.0 und des Phänomens des Cybermobbings.
"And too all the other lives that have been taken because of bullying, may you all rest in peace"

Dieser Spruch prangert an der offiziellen Amanda Todd Gedenkseite auf Facebook und heroisiert Amanda zum Opfer, zum Märtyrer einer Generation gemobbter und verzweifelter Jugendlicher, die nun zu Amanda aufsehen. Dies ist besonders dramatisch angesichts dessen, dass v.a. Suizide Prominenter den "Werther-Effekt" nach sich ziehen.

Mögen sich Printmedien wie die Süddeutsche Zeitung so gut wie möglich an einen Leitfaden für die mediale Berichterstattung über Suizid halten, Details zum Ort und der Methodik verschwiegen und auf eine Telefon-Seelsorge verwiesen haben ... sie haben Amanda für ewig mit einem desaströsen Phänomen des Web 2.0 verbunden - Cybermobbing - und damit ihren Teil zur Popularisierung und Glorifizierung Amandas auf der ganzen Welt beigetragen. 



Das geografische Verbreitungsgebiet als räumliche Grenze der analogen Printmedien wurde durch die Globalisierung und Digitalisierung des Journalismus aufgehoben. Damit sind nicht nur regional und national, sondern weltweit verstärkt  Nachahmungstaten v.a. unter (weiblichen) Jugendlichen zu befürchten, die ebenfalls Opfer von Mobbing- und Cybermobbing-Attacken werden oder es bereits sind. Denn  ein Detail haben die Medien besonders ausgeleuchtet: Amandas Motiv für ihre Tat. 


Berichten über Suizid? Das Paradoxon des Journalisten


„Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte!“ (1)

Dieser Imperativ für eine medienethisch vertretbare Art des Berichterstattens läuft jedoch den journalistischen Grundlagen (Hintergründe aufdecken, detailliert recherchieren etc..) komplett zuwider.  

Wenn eine suizidpräventive Berichterstattung doch im krassen Gegensatz zu journalistischen Grundregeln steht, warum wird nicht komplett auf die Berichterstattung verzichtet? 

  • In Punkt 1 der Stellungnahme des Schweizer Presserates zur Suizidberichterstattung heißt es zu diesem Problem unmissverständlich: „Suizide und Suizidversuche sind eine soziale Realität. Sie können für die Massenmedien grundsätzlich kein Tabu sein“
  • 1955 untersagt ein in Frankreich verabschiedetes Pressegesetz den französischen Medien jegliche Berichterstattung über den Suizid Minderjähriger.


"Die Journalisten befinden sich bei der Suizidberichterstattung im Spannungsfeld zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“." (1)

Neben dem gesinnungsethischen Ansatz und der Wahrheit als das höchste Gut des Journalisten, welche stets ans Licht kommen muss und deren Zweck alle Mittel heiligt, kann jedoch auch verantwortungsethisch argumentiert werden., indem man die Folgen der Berichterstattung abwägt und sich für diese verantwortlich fühlt. 

Außerdem stellen Suizide einen lukrativen Verkaufsfaktor dar. Nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft und dem Nachfrage-Angebot-Modell wecken insbesondere Suizide von Prominenten  das Interesse der Öffentlichkeit und so werden Selbstmorde wie der von Regisseur Tony Scott im Sommer 2012 von den Medien nach wie vor aufgegriffen. Der Wettbewerbsdruck lässt eine Verweigerungshaltung kaum zu.


Offizielle Richtlinien zur Berichterstattung über Selbsttötung des Deutschen Pressekodex: 

„Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt“ (2)
Hier wird weniger auf den "Werther-Effekt", als auf den Schutz der Privatsphäre eingegangen.  Außerdem bleiben die Richtlinien sehr vage formuliert und lassen sich einfach durch die Begründung des öffentlichen Interesses umgehen. Dies trifft bei jeder prominenten Person und jedem außergewöhnlichen Fall zu. 


So wurde Amanda Todd schlichtweg zu einem Fall öffentlicher Besorgniserregung durch ihre Verbindung mit einem neuen Phänomen, dem es gilt, Einhalt zu gebieten und der es rechtfertigt, Amanda Todds Namen weltweit zu veröffentlichen, statt ihn zu schützen.  



Ein kurzes Abschlussvideo ... Medien gehen über Leichen





Demnächst ...

Werther vs. Papageno Effekt
Pressefreiheit vs. Verbot von Suizidberichterstattung
Medienmonitor zu BILDs scheinheiliger Suizid-Politik
Die desaströse Medienberichterstattung über Robert Enkes Suizid





Literatur:

(1) Hegerl, U/ Ziegler, W: Der Werther-Effekt Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen In: Der Nervenarzt, 2002, Vol. 73(1), pp.41-49.

Online-Quellen

 http:// www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html
(2) http://www.presserat.info/inhalt/der-pressekodex/pressekodex/richtlinien-zu-ziffer-8.html; Stand: 25.11.2012
Fokus Online: http://www.focus.de/digital/computer/nach-selbstmord-der-schuelerin-kanadierin-amanda-todd-wird-symbol-gegen-cybermobbing_aid_843177.html; Stand: 25.11.2012
Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Amanda_Todd; Stand: 25. 11.2012.
(3) Süddeutsche-Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/digital/mobbing-im-internet-der-angekuendigte-tod-der-amanda-todd-1.1502486 Stand: 25.11.2012.
Tagesspiegel: http://www.tagesspiegel.de/medien/digitale-welt/trauer-um-15-jaehrige-cybermobbing-trieb-amanda-todd-aus-vancouver-in-den-tod/7277052.html; Stand: 25.11.2012.
Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=ej7afkypUsc; Stand: 25.11.2012.