Montag, 15. April 2013

Der Papageno-Effekt und die Suizidprävention

Bye bye Werther! Hello Papageno?!



2010 konnte das Forscherteam der „Wiener Werkstätte für Suizidforschung“ von der Universität Wien den Beweis für die Existenz des sogenannten „Papageno-Effekts“ erbringen. Dieser Effekt wurde nach dem Vogelfänger Papageno aus Mozarts „Zauberflöte“ benannt. Nach dem Verlust seiner Geliebten Papagena wurde Papageno vor der Selbsttötung bewahrt, indem ihm drei Jungen alternative Bewältigungsstrategien aufzeigten. Demzufolge können Berichterstattungen über Suizide nicht nur negative, sondern unter bestimmten Umständen auch suizidprotektive Effekte besitzen. Besonders auf die Inhalte komme es bei der breiten Wirkung von Suizidberichten an. Reportagen, die zeigen, wie Betroffene Krisensituationen ohne suizidales Verhalten konstruktiv lösen, können im Verbreitungsraum des Mediums zu einer sinkenden Suizidrate beitragen. (Vgl. Niederkrotenthaler: 2010, S. 234ff.)


Bereits 1974 prägte der amerikanische Soziologe David P. Phillips einen nicht nur in der heutigen Medienwirkungsforschung äußerst populären Begriff: der „Werther-Effekt“. (Vgl. Ziegler: 2002, S. 41). Diesem liegt eine Studie zugrunde, die bewies, „[…] dass die Selbsttötungsziffer nach der Veröffentlichung von Berichten über Selbsttötungen […] sowohl in den USA als auch in Großbritannien anstieg […]“ (Kunczik: 2006, S. 95). Die Rede ist genauer genommen von Selbsttötungen prominenter Persönlichkeiten, die via Zeitungsmedium verbreitet wurden.[1]
Die erste Beobachtung dieses berühmten Effekts lässt sich, wie der Name schon andeutet, 200 Jahre früher zu Lebzeiten Johann Wolfgang von Goethes datieren. Seit Erscheinen dessen Romans „Die Leiden des jungen Werther“ 1774, in welchem sich der Held durch einen Kopfschuss selbst tötet, verbreitete sich durch die Lektüre zunächst das sogenannte „Werther-Fieber“: Körperliche Symptome wurden nach zeitgenössischen literarischen Quellen als Kontrollverlust in Form von „[…] Tränen, Atemlosigkeit und Schwindel […]“ (Andree: 2006, S. 116), „[…] fiebrig glühenden Wangen, einem ohnmachtsartigen ‚Entfallen‘ des Buchs, Herzschmerz […]“ (ebd., S. 118), „[…]Verwirrung der ‚Phantasie‘[…]“ (ebd.) sowie Schlaflosigkeit beschrieben. Diese wurden durch die kognitive Wirkung und naive Rezeptionsweise des Textes, der seine eigene Medialität überschreitet, zum Mitempfinden anregt und wie eine wahre Geschichte wirkt, sowie durch das Sympathisieren mit dem Autor ausgelöst. Schon durch die Übertragung von Romanelementen in die eigene Lebenswelt, vor allem aber durch die Aneignung des Textes, den es folglich gilt, nachzuahmen, sowie durch eine radikale Identifizierung mit Goethes Romanfigur beispielweise durch biografische Ähnlichkeiten sollen die emphatische Wirkung überschritten und dutzende „imitatio-Handlungen“ [2] (ebd., S. 172), Selbsttötungen nach Werthers Vorbild, ausgelöst worden sein.[3] Goethe selbst unternahm 1775 in der zweiten Auflage seines Romans einen suizidpräventiven Versuch, indem er Werther folgende Worte in den Mund legte: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“ (Goethe zitiert nach ebd., S. 191) Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Werther-Selbsttötungen als zentraler Bestandteil des „Werther-Mythos“ (ebd., S. 9) zur „literarischen Legende“ (ebd., S. 182) und zählen zu den „spektakulärsten Nachahmungshandlungen der Mediengeschichte“ (ebd., S. 175). (Vgl. ebd. S. 137 und 172ff.)
Heute spricht die Wissenschaft nicht von einer Legende, sondern von einem legendären Effekt, der nicht nur die Nachahmung fiktionaler, sondern auch realer Selbsttötungen der zum Untersuchungsgegenstand zahlreicher Studien wurde.[4] Je nach Perspektive wird er „als Wirkzusammenhang zwischen Modell-Suizid und Nachahmungstat […] als Imitationshypothese […], Suggestionstheorie […], Enthemmungseffekt […] oder Ansteckungshypothese […] bezeichnet.“ (Ziegler: 2002, S. 43) Nach der klassischen Theorie des Modelllernens von Bandura eignet sich der Mensch unabhängig vom Alter Verhaltensweisen, die er bei anderen Menschen beobachtet, an. Dabei werden nicht nur neue Verhaltensweise erlernt, sondern vorhandene Verhaltensmuster gehemmt bzw. enthemmt. Positive und negative Konsequenzen des beobachteten Verhaltens beeinflussen die Häufigkeit, mit der dieses Verhalten vom Imitator gezeigt wird. Der „Werther-Effekt“ ist folglich eine potenzielle Auswirkung eines Modelllernvorgangs. In weiteren Studien wurden verschiedene Faktoren identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß des Nachahmungseffekts erhöhen: Die Beliebtheit und Popularität des Opfers, die Zahl der Identifikationsfaktoren mit dem Täter – Alter, Geschlecht, Rasse, Klasse, Lebenssituation, Charakter – die Länge und Intensität der Berichterstattung – je länger und intensiver berichtet wird, desto höher ist auch die Suizidrate in der Folgezeit der Berichterstattung – die Prominenz des Mediums, das Erscheinen der Selbsttötung auf den Titelseiten, die geografische Nähe zum medialen Verbreitungsgebiet, der Tatort - bestimmte Orte sind v.a. durch die Medienberichterstattung als Suizid-Tatorte bekannt und werden infolgedessen vermehrt von Selbstmördern aufgesucht – sowie spezifische Suizidmethoden bzw. suizidale Hilfsmittel. (Vgl. ebd. S. 43 ff.)
„Die Schauspielerin [Marylin Monroe] wurde tendenziell in den Medien als zu sensibel, emotional und zu gut für die berechnende und raue Filmwelt Hollywoods dargestellt, als eine verträumte Künstlerin, die zum Opfer der Männer und der Filmindustrie wurde. Ihr Suizid durch Drogeneinnahme wurde stilisiert als verständlicher Ausweg, stiller Protest und endgültiger Rückzug der Künstlerin in ihre Traumwelt.“ (Ebd., S. 45)
Eine Stilisierung, Glorifizierung, Heroisierung oder jegliche andere Art Bewertung durch die Medien wirkt sich ebenso negativ auf die Zahl der Nachahmer aus. Die Tat wird infolge als ruhmhaft erinnert und als akzeptabel bewertet. 
„Die in Aussicht gestellte posthume Anerkennung kann bei vulnerablen Gruppen zu einer Enthemmung und Enttabuisierung der suizidalen Tat führen.“ (Ebd.) 
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) verweist in einer Empfehlung für die mediale Berichterstattung über Selbsttötungen darauf, dass während eines Interviews mit Angehörigen beachtet werden sollte, dass diese noch unter Shock stehen könnten und getroffene Aussagen daher nicht als Erklärungen für den Suizid verwendet werden dürfen. Auch sollte nicht von einer ausweglosen Situation, die den Suizid rechtfertigen, oder von Einflüssen, die das Opfer in den Suizid getrieben haben, gesprochen werden. Von romantisierenden oder idealisierenden Darstellungen sowie von der Veröffentlichung eines Abschiedsbriefes und Fotos wird ebenfalls abgeraten. Berichte „über Hintergründe der Suizidgefährdung und Möglichkeiten der Hilfe […] über Warnsignale und Risikofaktoren und über konkrete überregionale und regionale Hilfsangebote[…]“ sowie „[e]in einfühlsames Eingehen auf die Angehörigen und Ihre [sic!] Trauer […]“(Empfehlungen für die Berichterstattung in den Medien) haben dagegen sogar eine suizidpräventive Wirkung. (Vgl. ebd.)
Dass bestimmte Reportagen über Suizide also auch eine präventive Wirkung auf gefährdete Rezipientengruppen haben können, sollte nicht nur in der Empirie und Theorie von Bedeutung sein. Auch praktisch muss der Nachweis des Papageno-Effekts wegweisend für zukünftige journalistische Berichterstattungsstrategien über Selbsttötungen sein. Bekannte deutsche Printmedien wie dieZeit“ haben über die gegensätzlichen Effekt bereits resümiert und sie damit  in den öffentlichen und medialen Fokus gerückt.
Da sich der suizidpräventive "Papageno-Effekt" jedoch lediglich nach  Reportagen einstellt, die nicht von geglückten Suiziden handeln, müssen weitere Maßnahmen darauf abzielen, den „Werther-Effekt“ durch sinnvolle Eingriffe in die praktische journalistische Arbeit zu reduzieren.
Auch Alice Ruddigkeit stellt in ihrer Studie „Der umgekehrte Werter-Effekt“ fest, dass die Wirkung von verschiedenen Typen von Berichten über Suizide differiert. Als Alternative zu einem „unattraktiven, uninvestigativen und uninformativen“ (Brosius und Ziegler zitiert nach Ruddigkeit: 2010, S. 257) Journalismus oder anstatt eines allgemeinen Verzichts auf Suizidberichte schlägt Ruddigkeit vor, bestehende Gruppen von Berichten über Suizide zu identifizieren, die hinsichtlich des „Werther-Effekts“ unbedenklich und dennoch journalistisch ansprechend sind. Kurze Berichte über anonyme Täter verursachen ihren Ergebnissen zufolge keine nennenswerten Nachahmungen, während bebilderte Berichte über relativ prominente Persönlichkeiten zu einem Anstieg der Suizidrate führen können. Den bisherigen Stand von Medienrichtlinien und Empfehlungen zur Suizidberichterstattung in Deutschland kritisiert sie als zu undifferenziert. (Vgl. ebd., S. 257f. und 271)
 



[1] Kritiker bemängelten, dass in dieser Studie nicht bewiesen werden konnte, „[…] dass die Selbstmörder zuvor die entsprechenden Medieninhalte rezipiert hatten.“ (Kunczik: 2006, S. 95)
[2] Ethymologisch kommt Imitatio von imitor, hängt zusammen mit aemulus (nacheifernd) und imago (Abbild). (Vgl. Andree: 2006, S. 174)
[3] Damals wie heute lassen sich die Nachahmungstaten nicht zweifelsfrei auf die Werther-Lektüre zurückführen. (Vgl. ebd., S. 187)
[4] Vgl. Kunczik: 2006, S. 94ff.





Quellen:

Niederkrotenthaler, Thomas [et al.] (2010): Role of media reports in completed and prevented suicide: Werther v. Papageno effects. In: The British Journal of Psychiatry. Vol. 197, S. 234-243.
Parvin Sadigh (22.11.2011): Der Werther-Effekt schadet, der Papageno-Effekt nützt. In Zeit Online. Online abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-11/suizid-medien [Stand: 06.04.2013].

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