Bye bye Werther! Hello Papageno?!
2010 konnte das Forscherteam der „Wiener Werkstätte für
Suizidforschung“ von der Universität Wien den Beweis für die Existenz des
sogenannten „Papageno-Effekts“ erbringen. Dieser Effekt wurde nach dem
Vogelfänger Papageno aus Mozarts „Zauberflöte“ benannt. Nach dem Verlust seiner
Geliebten Papagena wurde Papageno vor der Selbsttötung bewahrt, indem ihm drei
Jungen alternative Bewältigungsstrategien aufzeigten. Demzufolge können
Berichterstattungen über Suizide nicht nur negative, sondern unter bestimmten
Umständen auch suizidprotektive Effekte besitzen. Besonders auf die Inhalte
komme es bei der breiten Wirkung von Suizidberichten an. Reportagen, die
zeigen, wie Betroffene Krisensituationen ohne suizidales Verhalten konstruktiv lösen,
können im Verbreitungsraum des Mediums zu einer sinkenden Suizidrate beitragen.
(Vgl. Niederkrotenthaler: 2010, S. 234ff.)
Bereits 1974 prägte der amerikanische
Soziologe David P. Phillips einen nicht nur in der heutigen Medienwirkungsforschung
äußerst populären Begriff: der „Werther-Effekt“. (Vgl. Ziegler: 2002, S. 41). Diesem
liegt eine Studie zugrunde, die bewies, „[…] dass die Selbsttötungsziffer nach
der Veröffentlichung von Berichten über Selbsttötungen […] sowohl in den USA
als auch in Großbritannien anstieg […]“ (Kunczik: 2006, S. 95). Die Rede ist
genauer genommen von Selbsttötungen prominenter Persönlichkeiten, die via
Zeitungsmedium verbreitet wurden.[1]
Die erste Beobachtung dieses
berühmten Effekts lässt sich, wie der Name schon andeutet, 200 Jahre früher zu
Lebzeiten Johann Wolfgang von Goethes datieren. Seit Erscheinen dessen Romans „Die
Leiden des jungen Werther“ 1774, in welchem sich der Held durch einen
Kopfschuss selbst tötet, verbreitete sich durch die Lektüre zunächst das
sogenannte „Werther-Fieber“: Körperliche Symptome wurden nach zeitgenössischen
literarischen Quellen als Kontrollverlust in Form von „[…] Tränen,
Atemlosigkeit und Schwindel […]“ (Andree: 2006, S. 116), „[…] fiebrig glühenden
Wangen, einem ohnmachtsartigen ‚Entfallen‘ des Buchs, Herzschmerz […]“ (ebd., S.
118), „[…]Verwirrung der ‚Phantasie‘[…]“ (ebd.) sowie Schlaflosigkeit
beschrieben. Diese wurden durch die kognitive Wirkung und naive Rezeptionsweise
des Textes, der seine eigene Medialität überschreitet, zum Mitempfinden anregt
und wie eine wahre Geschichte wirkt, sowie durch das Sympathisieren mit dem
Autor ausgelöst. Schon durch die Übertragung von Romanelementen in die eigene
Lebenswelt, vor allem aber durch die Aneignung des Textes, den es folglich
gilt, nachzuahmen, sowie durch eine radikale Identifizierung mit Goethes
Romanfigur beispielweise durch biografische Ähnlichkeiten sollen die
emphatische Wirkung überschritten und dutzende „imitatio-Handlungen“ [2] (ebd., S.
172), Selbsttötungen nach Werthers Vorbild, ausgelöst worden sein.[3] Goethe
selbst unternahm 1775 in der zweiten Auflage seines Romans einen suizidpräventiven
Versuch, indem er Werther folgende Worte in den Mund legte: „Sei ein Mann und
folge mir nicht nach.“ (Goethe zitiert nach ebd., S. 191) Bereits Ende des 18.
Jahrhunderts wurden die Werther-Selbsttötungen als zentraler Bestandteil des „Werther-Mythos“
(ebd., S. 9) zur „literarischen Legende“ (ebd., S. 182) und zählen zu den „spektakulärsten
Nachahmungshandlungen der Mediengeschichte“ (ebd., S. 175). (Vgl. ebd. S. 137
und 172ff.)
Heute spricht die Wissenschaft nicht
von einer Legende, sondern von einem legendären Effekt, der nicht nur die
Nachahmung fiktionaler, sondern auch realer Selbsttötungen der zum Untersuchungsgegenstand
zahlreicher Studien wurde.[4] Je nach
Perspektive wird er „als Wirkzusammenhang zwischen Modell-Suizid und Nachahmungstat
[…] als Imitationshypothese […], Suggestionstheorie […], Enthemmungseffekt […]
oder Ansteckungshypothese […] bezeichnet.“ (Ziegler: 2002, S. 43) Nach der
klassischen Theorie des Modelllernens von Bandura eignet sich der Mensch unabhängig
vom Alter Verhaltensweisen, die er bei anderen Menschen beobachtet, an. Dabei werden
nicht nur neue Verhaltensweise erlernt, sondern vorhandene Verhaltensmuster gehemmt
bzw. enthemmt. Positive und negative Konsequenzen des beobachteten Verhaltens
beeinflussen die Häufigkeit, mit der dieses Verhalten vom Imitator gezeigt
wird. Der „Werther-Effekt“ ist folglich eine potenzielle Auswirkung eines
Modelllernvorgangs. In weiteren Studien wurden verschiedene Faktoren
identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß des Nachahmungseffekts
erhöhen: Die Beliebtheit und Popularität des Opfers, die Zahl der Identifikationsfaktoren
mit dem Täter – Alter, Geschlecht, Rasse, Klasse, Lebenssituation, Charakter –
die Länge und Intensität der Berichterstattung – je länger und intensiver
berichtet wird, desto höher ist auch die Suizidrate in der Folgezeit der
Berichterstattung – die Prominenz des Mediums, das Erscheinen der Selbsttötung
auf den Titelseiten, die geografische Nähe zum medialen Verbreitungsgebiet, der
Tatort - bestimmte Orte sind v.a. durch die Medienberichterstattung als
Suizid-Tatorte bekannt und werden infolgedessen vermehrt von Selbstmördern
aufgesucht – sowie spezifische Suizidmethoden bzw. suizidale Hilfsmittel. (Vgl.
ebd. S. 43 ff.)
„Die Schauspielerin [Marylin
Monroe] wurde tendenziell in den Medien als zu sensibel, emotional und zu gut
für die berechnende und raue Filmwelt Hollywoods dargestellt, als eine
verträumte Künstlerin, die zum Opfer der Männer und der Filmindustrie wurde.
Ihr Suizid durch Drogeneinnahme wurde stilisiert als verständlicher Ausweg,
stiller Protest und endgültiger Rückzug der Künstlerin in ihre Traumwelt.“ (Ebd.,
S. 45)
Eine Stilisierung, Glorifizierung, Heroisierung oder jegliche
andere Art Bewertung durch die Medien wirkt sich ebenso negativ auf die Zahl
der Nachahmer aus. Die Tat wird infolge als ruhmhaft erinnert und als
akzeptabel bewertet.
„Die in Aussicht gestellte posthume Anerkennung kann bei vulnerablen Gruppen zu einer Enthemmung und Enttabuisierung der suizidalen Tat führen.“ (Ebd.)
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) verweist
in einer Empfehlung für die mediale Berichterstattung über Selbsttötungen
darauf, dass während eines Interviews mit Angehörigen beachtet werden sollte,
dass diese noch unter Shock stehen könnten und getroffene Aussagen daher nicht
als Erklärungen für den Suizid verwendet werden dürfen. Auch sollte nicht von
einer ausweglosen Situation, die den Suizid rechtfertigen, oder von Einflüssen,
die das Opfer in den Suizid getrieben haben, gesprochen werden. Von romantisierenden
oder idealisierenden Darstellungen sowie von der Veröffentlichung eines
Abschiedsbriefes und Fotos wird ebenfalls abgeraten. Berichte „über Hintergründe
der Suizidgefährdung und Möglichkeiten der Hilfe […] über Warnsignale und
Risikofaktoren und über konkrete überregionale und regionale Hilfsangebote[…]“
sowie „[e]in einfühlsames Eingehen auf die Angehörigen und Ihre [sic!] Trauer […]“(Empfehlungen
für die Berichterstattung in den Medien) haben dagegen sogar eine
suizidpräventive Wirkung. (Vgl. ebd.)
Dass bestimmte Reportagen über Suizide also auch eine präventive Wirkung auf gefährdete Rezipientengruppen haben
können, sollte nicht nur in der Empirie und Theorie von Bedeutung sein. Auch
praktisch muss der Nachweis des Papageno-Effekts wegweisend für zukünftige journalistische
Berichterstattungsstrategien über Selbsttötungen sein. Bekannte deutsche
Printmedien wie die „Zeit“ haben über
die gegensätzlichen Effekt bereits resümiert und sie damit in den öffentlichen
und medialen Fokus gerückt.
Da sich der suizidpräventive "Papageno-Effekt" jedoch lediglich nach Reportagen
einstellt, die nicht von geglückten Suiziden handeln, müssen weitere Maßnahmen darauf abzielen, den „Werther-Effekt“ durch
sinnvolle Eingriffe in die praktische journalistische Arbeit zu reduzieren.
Auch Alice Ruddigkeit stellt in ihrer Studie „Der umgekehrte
Werter-Effekt“ fest, dass die Wirkung von verschiedenen Typen von Berichten
über Suizide differiert. Als Alternative zu einem „unattraktiven,
uninvestigativen und uninformativen“ (Brosius und Ziegler zitiert nach
Ruddigkeit: 2010, S. 257) Journalismus oder anstatt eines allgemeinen Verzichts
auf Suizidberichte schlägt Ruddigkeit vor, bestehende Gruppen von Berichten
über Suizide zu identifizieren, die hinsichtlich des „Werther-Effekts“
unbedenklich und dennoch journalistisch ansprechend sind. Kurze Berichte über
anonyme Täter verursachen ihren Ergebnissen zufolge keine nennenswerten Nachahmungen,
während bebilderte Berichte über relativ prominente Persönlichkeiten zu einem Anstieg
der Suizidrate führen können. Den bisherigen Stand von Medienrichtlinien und
Empfehlungen zur Suizidberichterstattung in Deutschland kritisiert sie als zu
undifferenziert. (Vgl. ebd., S. 257f. und 271)
Quellen:
Niederkrotenthaler,
Thomas [et al.] (2010): Role of media reports in completed and prevented
suicide: Werther v. Papageno effects. In: The British Journal of Psychiatry. Vol. 197, S. 234-243.
Parvin Sadigh (22.11.2011): Der Werther-Effekt schadet, der Papageno-Effekt nützt. In Zeit Online. Online abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-11/suizid-medien [Stand: 06.04.2013].